Der Sport verbindet Menschen. Unabhängig der Herkunft, des Geschlechts, des Alters, des Aussehens, im Sport zählen Werte wie Leidenschaft und Teamgeist. Und besonders im Fußball, der populärsten Sportart überhaupt, treffen Milliarden Menschen weltweit aufeinander und verbindet Gleichgesinnte. Eine besondere Facette des Fußballs ist der Amputierten-Fußball, der im vergangenen Jahrzehnt einen zunehmenden Aufschwung verzeichnet. Denn er befähigt Menschen, die ein Bein oder ein Arm verloren haben oder ohne bzw. verkürzte Gliedmaßen geboren sind, dazu, der besonderen Leidenschaft des Fußballs nachzugehen. Wir unterhielten uns mit Nationaltrainer Claus Bender über die Entwicklung des Amputierten-Fußballs in Deutschland, über Trainingsinhalte und Ziele für die anstehende Europameisterschaft im September 2020 in Krakow. Auch über den FC Union Heilbronn, mit dem ein gemeinsames Training im Rahmen des letzten Trainingslagers unter dem Slogan „Stop dreaming - start doing“ stattfand, findet der Nationaltrainer lobende Worte.
Beim Amputierten-Fußball spielen die Feldspieler ohne Prothesen, vielmehr wird der Ball einbeinig mit Hilfe von Metallkrücken gespielt, während der Torhüter einhändig aktiv ist. Gespielt wird insgesamt mit einem Torhüter und sechs Feldspielern auf einem 51 x 31 Meter großen Spielfeld. Die Spielzeit beträgt 2x25 Minuten und das Tor ist 2x5 Meter groß. Aufgrund des verkürzten Spielfeldes und der Regelanpassung, dass ohne Abseits gespielt wird, ist ein schnelles und spannendes Spiel vorprogrammiert. Der Ball darf, abgesehen vom Torhüter, nur mit dem Bein fortbewegt werden, das gezielte Einsetzen der Krücken wird als Handspiel gewertet. Wird die Krücke allerdings versehentlich getroffen oder hat der Spieler keine aktive Bewegung ausgeführt, so läuft das Spiel folglich weiter.
In Deutschland wird erst seit knapp über einem Jahrzehnt Amputierten-Fußball gespielt, zunächst als Initiativen auf privater Ebene. 2015 wurde der Verein Anpfiff Hoffenheim in Kooperation mit Anpfiff ins Leben und der Bewegungsförderung für Amputierte gegründet, der speziell Menschen mit Amputationen fördert und dem Amputierten-Fußball neue Triebkraft verlieh. Im gleichen Jahr gründete sich mit den Sportfreunden Braunschweig eine weitere Vereinsmannschaft in Deutschland. Über den Verein Anpfiff Hoffenheim fand auch Nationaltrainer Claus Bender, der selbst aus dem Fußballsektor kommt und als Skilehrer-Ausbilder auch an Programmen für amputierte Skifahrer mitwirkte, vor viereinhalb Jahren den Zugang zum Amputierten-Fußball. Ziel war es, gemeinsam den Bekanntheitsgrad des Amputierten-Fußballs in Deutschland zu erweitern und Andockstationen zu schaffen: „Wenn jemand über die Sportart erfährt, muss die Person auch in relativ professionelle Strukturen andocken können und das in erreichbarer Nähe“, so das Credo. So laufen Planungen, Andockstationen in allen Teilen des Landes zu installieren, um in den Ballungszentren zukünftig entsprechende Anlaufstellen zu haben, damit Interessierte an einem koordinierten Training teilnehmen können. Hierzu schuf Anpfiff ins Leben im vergangenen Jahr 2019 in Kooperation mit der Aktion Mensch Stiftung eine Vollzeitstelle zur bundesweiten Entwicklung dieser Sportart. Christian Heinz, selbst Spieler und Pionier seit den Anfangszeiten, ist seitdem in der ganzen Republik unterwegs, um die Sportart bekannter zu machen und Kooperationen mit Sportschulen, Fußballverbänden, Schulen und weiteren Institutionen zu starten. So schloss sich im vergangenen Jahr mit Fortuna Düsseldorf der nächste Verein an, der gerade dabei ist, ein eigenes Team zu formieren. Auch die Trainer befinden sich in einem engen Austausch, hierbei werden organisatorische und trainingsspezifische Inhalte während der Pionierarbeit abgestimmt. Mit jeder Vereinsgründung steigt die Hoffnung, dass der Amputierten-Fußball bekannter wird, aktive Sportler dazustoßen und ein eigener Ligabetrieb entsteht.
Zwar gibt es noch keinen eigenen Ligabetrieb, dennoch sind für 2020 drei Spieltage an den unterschiedlichen Standorten (Braunschweig, Düsseldorf, Hoffenheim) geplant, um einen nationalen Durchlauf zu starten. In der Vergangenheit gab es zusätzlich zu internationalen Turnieren auch Spieltage in fremden Ligen: So nahm das Team von Anpfiff Hoffenheim als Gastmannschaft 2017 an vier Spieltagen der polnischen Liga teil. 2018 fanden in Kooperation mit Belgien und der Niederlande ebenfalls drei Spieltage im Rahmen eines Dreiländerturniers statt, bevor nun der erste Versuch in Deutschland mit den nationalen Teams bevorsteht.
Während Deutschland in diesem Bereich des Fußballs noch Entwicklungsland ist, gibt es in Ländern wie der Türkei oder England bereits organisierte Ligen. Insgesamt gehören 17 Länder zur EAFF (European Amputee Football Federation), die mittlerweile auch Mitglied des europäischen Fußballverbands UEFA ist. Ein gemeinsames Ziel ist es, den Status einer paralympischen Sportart zu erhalten und an den Paralympics 2028 in Los Angeles teilzunehmen.
Doch auch wenn es in Deutschland bei rund 35 aktiven Amputierten-Fußballern noch kein etabliertes Ligasystem gibt, ist die deutsche Amputierten-Fußball-Nationalmannschaft, die seitens des DFB von der hausinternen Sepp-Herberger-Stiftung unterstützt wird, regelmäßig bei den internationalen Spielen vertreten. Bei der WM 2014 in Mexiko erreichte die deutsche Amputierten-Fußball-Nationalmannschaft beispielsweise einen respektablen 13. Platz und bei der letzten Europameisterschaft2017 in der Türkei sprang sogar der achte Platz heraus. Im Finale standen sich in Istanbul die türkische und englische Nationalmannschaft vor 40000 Zuschauern (!) gegenüber. Auf die Europameisterschaft angesprochen, wirft der Nationaltrainer gerne einen Blick zurück:„In der Türkei, das war schon Wahnsinn, was da los war. Man hat man uns auf dem Platz mehr oder weniger nicht gekannt und wir haben es geschafft, uns für die Weltmeisterschaft zu platzieren. Von daher war das schon eine Überraschung und ein Riesenerlebnis für uns.“
Mit dem Erreichen des achten Platzes löste die deutsche Amputierten-Fußball-Nationalmannschaft nämlich zugleich auch das WM-Ticket im nächsten Jahr in Mexiko, allerdings entschloss man sich, statt dem großen Turnier an der strukturellen Basis zu arbeiten, um nachhaltig Perspektiven zu schaffen: „Wir haben eine genaue Nachbetrachtung gemacht. Es war toll, dass wir das Turnier so abschließen konnten, aber für die Entwicklung dieser Sportart hätten wir die Leistungsfähigkeit über das normale Maß hinaus strapaziert und wir hätten keinen Puffer gehabt, um eine gesunde Basisstrategie zu fahren in Deutschland. Deswegen haben wir gesagt, dass wir mit dieser positiven Erfahrung diese Sportart auf eine neue solide Basis stellen, indem wir Leistungszentren schaffen, neue Vereine gewinnen und Multiplikatoren schaffen.“
Mit der im September anstehenden Europameisterschaft im polnischen Krakau folgt nun das nächste große Turnier, auf das sich das Team trotz der Coronakrise mit vollem Elan vorbereitet:„Auch wenn wir vorübergehend auf unsere Trainingslager und Lehrgänge verzichten müssen, haben die Spieler einen Athletik-Trainingsplan bekommen, wonach sie versuchen, den Status der Athletik nach oben zu hieven. Die fußballerische Komponente, das Mannschaftstraining haben wir derzeit im Ordner der Unmöglichkeit. Aber die Spieler haben ihre individuellen Athletik-Pläne und übermitteln uns da auch ab und zu ihre Daten. Wir haben eine Staffel mit sechs Übungen, wo wir versuchen, über Reaktionsschnelligkeit und die koordinativen Fähigkeiten, über kräftigende Übungen, Kraftschnelligkeit und Ausdauer auf diese Sportart bezogen den Oberkörper und die Schulterpartien bestmöglich athletisch auszubilden, bei gleichzeitigem Erhalt der Beweglichkeit dieser Muskelpartien. Die mannschaftstaktischen Inhalte sind derzeit sehr schwierig umzusetzen. Inzwischen teilen sich die Jungs auch ein paar Videos auf Facebook, um den Spaßfaktor hochzuhalten. Aber es ist auch ein stückweit eine Chance in dieser Zeit, auf eine andere Art ein Mannschaftsgefüge zu schaffen. Das versuchen wir über einen permanenten Kontakt und positive Impulse.“
In Zeiten der Coronakrise, in denen Claus Bender die Gesundheit und das Wohl des Einzelnen betont, ist es immer ein „Balanceakt“, dem er hinzufügt: „Wenn man mit vollem Eifer an die Sache herangeht, mit Spaß dabei ist, und will -aber nicht muss -, dann fühlt sich´s einfach gut an. Und die Argumente, warum es zu einem Muss wird, die muss sowohl der Trainer, als auch die Spielergemeinschaft abwehren. Es muss immer ein Wollen bleiben und wenn´s ein Wollen ist, dann wird´s auch gut. Und das sind auch solche Dinge, die ich gerne auch in die Gesellschaft mit reinbringen würde: Das Wollen ist entscheidend, nicht das Müssen. Und das ist für mich auch eine Gabe als Trainer, dass ich mit Menschen zusammenkomme, die wollen. Die Jungs wollen unabhängig von ihrer Lebens- und auch Leidensgeschichte Fußball spielen, die wollen den Fußball in ihrem Leben weiter erhalten, das macht es so besonders.“
Für die anstehende Europameisterschaft, bei der die deutsche Amputierten-Fußball-Nationalmannschaft in der Gruppe C auf Russland, Irland und Belgien trifft, hofft man, für die ein oder andere Überraschung zu sorgen. Bezüglich der öffentlichen Wahrnehmung und der Wirksamkeit eines großen sportlichen Erfolges gibt Claus Bender seine Einschätzung ab: „Von der Wirkung in Deutschland wäre ein sportlicher Erfolg sehr wichtig. Realistisch auf der sportlichen Ebene muss man sagen, dass die durchaus stärker verankerten Nationen in der Sportart natürlich Vorteile haben. Ich muss da immer realistisch bleiben mit den Zielen, die ich der Mannschaft geben kann. Eine ähnliche Platzierung wie bei der Europameisterschaft in der Türkei wäre aufgrund der Möglichkeiten, die wir derzeit in Deutschland haben, denkbar, vielleicht 1-2 Plätze weiter vorne. Aber für den Eintrag in die breite Öffentlichkeit müsste man schon im Endspiel in Krakau vor 40000 Zuschauern stehen und Livestreams dies beheimaten. In der Türkei zum Beispiel lief das Endspiel bei TRT1 um 18:00 Uhr, auch das Halbfinale zwischen der Türkei und Russland schon, das ist wie die ARD.“
Auch wenn der Amputierten-Fußball derzeit ruht, so ist die Vorfreude schon spürbar und unabhängig des großen Turnieres stets nach vorne gerichtet. In naher Zukunft werden die Kooperationen mit verschiedenen Stiftungen, den Fußball- und Behindertensportverbänden sowie medizinischen Einrichten intensiviert, um die Wahrnehmung weiterhin zu stärken, sodass die ambitionierten Ziele verwirklicht werden können, vielmehr aber immer mehr Menschen den Weg zu dieser wunderbaren Facette des Fußballs finden.
Wir vom FC Union Heilbronn wünschen jedenfalls alles Gute und bestes Gelingen und werden den Weg aufmerksam verfolgen!
Zum Abschluss des neunzigminütigen Telefonats, das Kevin Herrmann führte, äußerte sich Nationaltrainer Claus Bender auch über unsere Aktiven-Mannschaft, die im Rahmen des letzten Trainingslagers zu einem gemeinsamen Training in Hoffenheim eingeladen war und die der Nationaltrainer auch schon mehrfach vor Ort in der Bezirksliga Unterland spielen sehen konnte: „Ich habe da eine in sich positive Truppe erlebt, die aber noch so ein bisschen ihren Nordpol sucht. Ihr habt eine sehr positive Ausstrahlung in dem, dass ihr an euch glaubt. Die Mannschaft ist bereit und in der Lage, in einem Moment im Spiel voller negativer Einflüsse, ihr Ding zu machen und diesen Charakter haben wenige Mannschaften. Aus meiner Sicht habt ihr einen guten Kern in der Truppe, aber ihr erkennt ihn manchmal nicht und lasst ihn fahrig. Das wünsche ich mir für die weitere Entwicklung: Dass ihr auch wirklich die Chance erkennt und immer mehr wollt und Gas gebt, dann ist einiges möglich. In mir habt ihr da wirklich einen Fan, der da draußen steht.“